Rezension – Rabenfrauen

Sommer 1959: Beim Baden lernen die beiden Freundinnen Christa und Ruth den großen, gutaussehenden Erich kennen. Dieser ist mit einer Gruppe Freikirchlern in einem Camp in der Nähe und lädt die beiden ein, sich ihnen zum Beten anzuschließen. Was zuerst Abwechslung in einem sehr heißen Sommer verspricht, wird bald zur Schicksalwende für die beiden jungen Frauen: sie verlieben sich beide in Erich und werden in eine Welt voller Scham und Angst hineingezogen.

Vielen Dank an Anja Jonuleit für dieses Rezensionsexemplar!

Vor kurzem durfte ich nicht nur Kaiserwald von Anja Jonuleit rezensieren, mir wurde auch Rabenfrauen zur Rezension angeboten. Und da ihre Bücher mich bisher immer in ihren Bann gezogen haben, habe ich natürlich sofort zugesagt! Bereits auf dem Klappentext steht, dass die Colonia Dignidad eine Rolle spielt und ich war sehr gespannt, wie Jonuleit die furchtbaren Geschehnisse um diese Foltersekte in ihrem Roman verarbeitet.

Mit den Freundinnen Ruth und Christa hat Jonuleit zwei sehr unterschiedliche Protagonistinnen geschaffen. Während Christa schnell in den Bann des Sektenführers Paul Schäfter gesogen wird und lange keine Probleme in dem sieht, was dieser vermittelt, steht Ruth ihm eher skeptisch gegenüber. Ihre Anziehung bezieht sich auf den schneidigen Erich, weniger auf den Glauben, der durch Schäfer vermittelt wird. Dadurch gibt es einerseits einen Blick von außen auf die Geschehnisse, insbesondere während Schäfer und seine Jünger*innen sich noch in Deutschland aufhalten.

Durch Christas Sicht, welche den beklemmensten Strang der Geschichte erzählt, merkt man aber auch, wie es Schäfer gelang, die Menschen ruhigzuhalten und sicherzustellen, dass es keinen Aufstand gab. Aus dieser Perspektive erfährt man auch das meiste über die Gräueltaten der Sekte während ihrer Zeit in Chile.
Zugleich gibt es eine Sichtweise aus 2010, die nachträglich auf das Ganze blickt und die vermutlich die gleichen Fragen umtreiben, wie die meisten von uns: wie konnte es so weit kommen? Und warum haben diese Menschen so bereitwillig mitgewirkt in einer der schlimmsten Sekten, von der ich je gehört habe?

All diesen Fragen geht Anja Jonuleit in einer spannend und einfühlsam geschriebenen Geschichte auf den Grund. Man möchte besonders Christa sagen: „Das nimmt kein gutes Ende, mach, dass du da wegkommst!“ Zugleich schüttelte es mich manchmal bei den beschriebenen Folterungen, egal ob psychischer oder physischer Natur. Dabei beschränkte sich Jonuleit, nach allem, was man über die Colonia Dignidad weiß, in ihren Beschreibungen wohl auf die „harmloseren“ Taten von Schäfer und seinen Vertrauten. Die Taten im Zusammenhang mit der Pinochet-Diktatur, beispielsweise, werden nur vage angedeutet. Gleiches gilt für den von Schäfer vorgenommenen sexuellen Missbrauch kleiner Jungen.

Rabenfrauen ist kein leichtes Buch. Es behandelt einige wirklich heftige Themen, nimmt einen mit und man vergisst es so schnell nicht. Dennoch empfehle ich es euch von Herzen. Nicht nur, dass die Colonia Dignidad eine deutsche Sekte ist, die, gerade angesichts der politischen Implikationen und furchtbaren Taten ihrer Mitglieder, überraschend wenige kennen. Anja Jonuleit hat wieder ein fesselndes, spannendes, emotionales und informatives Buch geschrieben, das einfach sehr lesenswert ist!

Bewertung: 5 von 5.

Weitere Meinungen zum Buch:
Buchperlenblog (4.8/5 Sterne; „Ein schweres Thema, dass jedoch sehr angenehm umgesetzt wurde. Lesehighlight!“
Quodlibet – Hörbuchblog (5 Herzen; „Kopfkino pur“)
Papier und Tintenwelten (5 Rosen; „ein Roman der mir mit seiner Mischung aus Fakten, Dramatik und Emotionen unter die Haut gegangen ist“)

Über Anja Jonuleit:
Jonuleit wurde 1965 in Bonn geboren und wuchs am Bodensee auf. Sie arbeitete an den Deutschen Botschaften in Rom und Damaskus, bevor sie in München Italienisch und Englisch am Sprachen- und Dolmetscherinstitut studierte. Danach war sie als selbstständige Übersetzerin und Gerichtsdolmetscherin tätig. Seit 2007 veröffentlicht Anja Jonuleit regelmäßig Bücher; Kaiserwald ist ihr neuestes Buch und der erste Band einer Dilogie.
Quelle: Penguin

Colonia Dignidad

1921 wurde Paul Schäfer geboren, der zunächst als Jugendleiter verschiedener christlicher Organisationen tätig wurde. Bereits zu dieser Zeit wurden erste Missbrauchsvorwürfe gegen ihn bekannt. 1956 gründete er mit einem Prediger zusammen die „Private Sociale Mission“, die ein Kinderheim für Gruppenmitglieder betrieb. Als es zu Ermittlungen gegen ihn wegen weiterer Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs an Jungen kam, floh Schäfer 1961 mit rund 150 Mitgliedern nach Chile und gründete die Colonia Dignidad (offiziell Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad). Darin lebten die Sektenmitglieder streng abgeschottet von der Außenwelt; das erworbene Gelände wurde nach und nach zu einer richtiggehenden Festung ausgebaut. Frauen, Kinder und Männer lebten streng getrennt, private Gespräche irgendwann nicht mehr erlaubt. Schäfer verlangte völlige Unterwerfung und reagierte mit Gewalt auf Zuwiderhandlungen.
Schäfer gelang es zudem, die umliegenden Behörden zu korrumpieren, sodass diese ihm bei der Suche nach Flüchtenden halfen. Besonders erschütternd war, dass Menschen auch von der deutschen Botschaft in Chile zurück in die Colonia Dignidad geschickt wurden.
In den Jahren der Pinochet-Diktatur wurde die Colonia als Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes genutzt. Es kam zu Folterungen und Morden, gefangene Chilenen wurden als Zwangsarbeiter eingesetzt.
Als in Chile mehrere chilenische Eltern Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs erstatteten, tauschte Schäfer 1996 unter. Er wurde 2006 zu 20 Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilt, darauf folgten später weitere Verurteilungen, u.a. wegen Mordes. 2010 starb er im Gefängnis.
Bereits in den 1990ern wurde die Colonia in Villa Baviera umbenannt und mittlerweile (Stand 2019) als Tourismus-Resort betrieben.
Quellen: Wikipedia / Wikipedia

Das war nur ein sehr kurzer Überblick, es ließe sich noch viel mehr sagen. Zur Colonia Dignidad gibt es Massen an Material, auch online. Arte hat eine zweiteilige Dokumentation veröffentlicht. Von Netflix gibt es eine Mini-Serie mit sechs Folgen, der Titel lautet Colonia Dignidad: Eine deutsche Sekte in Chile. Und bei Planet Wissen gibt es ebenfalls eine Übersichtsseite zum Thema. Abgeschlossen ist das Kapitel „Colonia Dignidad“ übrigens keineswegs: nur ein Jahr alt ist ein Beitrag der Tagesschau, der die mangelnden Bemühungen zur Aufarbeitung durch das Auswärtige Amt anprangert.

WERBUNG

Taschenbuch: ISBN 978-3-423-21753-8 | 12 €
eBook: ISBN 978-3-423-42964-1 | 9,99 €
Hörbuch: ISBN 978-3-862-31770-7 | 13,99 €
400 Seiten | erschienen 2018

Verlagswebseite zum Buch


Bildquellen
Cover: dtv
Autorin: Penguin (© Martin Hangen)
Colonia Dignidad: Deutschlandfunk (dpa / picture alliance)

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