Rezension – Das Vermächtnis unsrer Väter

Als ein Familienvater seine Frau, Kinder und sich selbst erschießt, versteckt sich der achtjährige Sohn Tommy im Kleiderschrank. Mehr als 20 Jahre später kehrt er auf die Insel zurück, die Schauplatz der Tat war. Er will sich seiner Vergangenheit stellen. Insbesondere den Schuldgefühlen, die er über die Tat hat. Zu seinem Onkel entsteht eine sehr innige und intensive Beziehung. Aber viele andere Menschen auf der Insel treten ihm gegenüber eher ablehnend auf – sie befürchten, dass in ihm etwas vom Wahnsinn seines Vaters stecken könnte.

CW für Buch und Rezension: Mord, Selbstmord, häusliche Gewalt, seelische Gewalt

Das Vermächtnis unsrer Väter greift eine Frage auf, die jeden von uns umtreibt, wenn wir von einem schrecklichen Ereignis erfahren: Warum? Warum begeht jemand einen Amoklauf? Oder einen Terroranschlag? Warum bringt jemand seine Frau oder gar seine gesamte Familie um? Und ist dieses Verhalten etwas, das vererbt werden kann? Muss das Kind eines Mörders damit rechnen, ebenfalls zum Mörder zu werden? Und müssen die Menschen um diesen Nachkommen immer damit rechnen, von ihrem Mann, Vater, Schwager (denn meist sind es Männer) umgebracht zu werden? In diesem Buch folgt man Tommy, während er versucht, Antworten auf diese Fragen zu bekommen.

Es ist unglaublich schwer zu lesen. Nicht wegen des Schreibstils, der sehr angenehm war. Sondern thematisch. Die Morde werden nur kurz genauer beschrieben. Hauptsächlich geht es um die Gegenwart Tommys und wie er mit seinen Erinnerungen und Gefühlen kämpft. Aber das Buch hält einem einen Spiegel vor. Man erkennt, dass manches Verhalten, dass man selbst manchmal an den Tag legt, und missgünstige Gedanken, die man manchmal hat, ganz anders bewertet werden können, wenn man in einen Mord verwickelt ist. Außerdem möchte man manche der Leute auf der Insel schütteln, wie sie mit Tommy umgehen. Einige verhalten sich ihm gegenüber sehr misstrauisch, als könnte er, wie sein Vater, jeden Moment ausrasten.

Besonders heftig war der Teil, der aus Sicht von Tommys Mutter geschrieben ist. Denn man weiß als Leser ganz genau, wie ihre Geschichte endet. Jedes Mal, wenn sie die Schuld an einer Auseinandersetzung bei sich sucht, aufgrund der Aussagen ihrer Mannes an sich selbst zweifelt oder das Verhalten von ihm entschuldigt, möchte man ihr zurufen: „Renn! Nimm die Kinder und verlass ihn! Renn weg!“

„Man sollte ihn schon so sehen, wie er wirklich war. […] Er war eben kein guter Mensch. Ein guter Mensch bringt seine Familie nicht um.“

Tommy, E-Book S. 285

Es geht auch viel um das Thema Schuld. Das fand ich besonders spannend zu lesen, da es eine Diskussion ist, die in meinem Studiengang Jura gern und viel diskutiert wird. Wer hat Schuld an dem Dreifachmord? Der Vater des Täters, der ebenfalls seine Familie missbrauchte? Der Sohn, der einen Streit der Eheleute hervorrief? Außenstehende, die mehr hätten tun können? Oder doch „einfach nur“ der Täter selbst?

Aufgegriffen wird auch, dass Menschen oft nicht gewillt sind, anzuerkennen, dass sich hinter der Fassade des netten Nachbarn und Familienvater ein schlechter Mensch verbirgt. Tommys Vater ist „eine Sicherung durchgebrannt“, oder es war ein „Anfall von Wahnsinn“. Dass er ein kontrollierendes Arschloch war, das seine Frau und Kinder bewusst kleinhielt und dessen Gewalt gegen sie zunehmend eskalierte (wenn auch nicht auf der körperlichen Ebene), sehen die meisten nicht.
Und das gilt ja nicht nur für diesen fiktiven Fall. Auch in den Zeitungen heißt es immer wieder, dass eine „Familientragödie“ stattgefunden hätte, oder dass eine Frau (denn die sind meist Opfer) von ihrem Partner (fast immer männlich) umgebracht wurde, weil sie dies oder jenes getan hätte. Aber das ist die falsche Wortwahl. Ein Mann hat gemordet. Er war der Ansicht, dass eine Frau ihm gehöre und ihm zu gehorchen habe. Und er setzte seine misogyne Weltanschauung in die Tat um, indem er seinen „Besitz“ ermordete.

Das brutale Paradox bestand darin, dass die Warnzeichen erst nach dem Ereignis zu deuten waren. Sie wurden durch das Ereignis enthüllt. Es hatte das Schlimmste passieren müssen, damit [er] sich aus den vielen Hinweisen die ganze Geschichte zusammenreimen konnte.

E-Book, S. 448

Bewertung: 5/5 Sterne

Weitere Meinungen zum Buch:
SL Leselust („Ein lesenswertes, kleines Werk über Schuld und die Dinge, die einen zu dem Menschen machen, der man geworden ist.“)
Books and Notes („macht diese Geschichte so greifbar, so abgrundtief bewegend“)

Über Rebecca Wait:
Wait wurde 1988 geboren. Sie wuchs in Oxfordshire auf, verbrachte aber auch viel Zeit in Schottland und auf den Hebriden. Sie studierte Englisch in Oxford und schloss ihr Studium 2010.
2013 erschien ihr Debütroman The View on the Way Down (dt.: Kopfüber zurück). Sie erhielt schon mehrere Preise für ihre Kurzgeschichten und Theaterstücke.
Rebecca Wait lebt in London und arbeitet als Lehrerin.
Quelle: Kein & Aber


WERBUNG

Originaltitel: Our Fathers | Übersetzerin: Jenny Merling
Hardcover: ISBN 978-3-0369-5808-8 | 22,00€
E-Book: ISBN 978-3-0369-9424-6 | 17,99€
336 Seiten | erschienen 2020

Verlagswebseite zum Buch

Website von Rebecca Wait

Bildquellen
Autorin: Website von Rebecca Wait
Cover: Kein & Aber

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